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Konzentrieren Sie sich!

Ständig werden wir abgelenkt, springen von einer Aufgabe zur anderen und werden dabei immer nervöser. Das ist heute der Normalzustand. Wie können wir uns vor Störungen schützen und lernen, wieder ganz bei der Sache zu sein?

Sie haben sich auf diesen Text gestürzt wie ein Ertrinkender im endlosen Ozean der unerledigten Dinge, der ein kleines Boot entdeckt, das Rettung verspricht. Sie sind wild entschlossen, ihn zu Ende zu lesen, weil Sie hoffen, den ultimativen Tipp zu bekommen, wie Sie die vielen offenen Vorgänge, die Sie angefangen haben, endlich geregelt bekommen. Hoffnungsvoll lesen Sie weiter. In Ihnen taucht der verwegene Gedanke auf, ob es nicht effektiver wäre, den Schreibtisch zu Ende aufzuräumen, statt einen Text darüber zu lesen, wie Sie es eventuell schaffen, den Schreibtisch aufzuräumen. Sie wischen den Zweifel heroisch beiseite, aufräumen können Sie immer noch. Doch dann spüren Sie ein komisches Ziehen in der Magengegend: Ihr Magen funkt „Hunger“.

Sie gehen in die Küche mit dem Vorsatz, sich ein Käsebrot zu schmieren. Beim Weg dorthin fällt Ihr Blick auf die Kiste mit dem Altpapier, die Ihr pubertierendes Kind entgegen der Absprache morgens doch nicht hinuntergetragen hat. Wenn man nicht alles selbst macht, schimpfen Sie und sehen sich verwundert dabei zu, wie Sie die Kiste die Treppen hinunterwuchten. Auf dem Rückweg vom Altpapiercontainer öffnen Sie noch schnell den Briefkasten und fischen diverse Werbezettel heraus, darunter einen Prospekt eines Autohauses. Dabei fällt Ihnen ein: Der Wagen muss zum TÜV! Dieser Gedanke lässt Sie schnell nach oben zum Telefon eilen – ohne die leere Altpapierkiste, die Sie vor dem Briefkasten abgestellt haben. Auf die Schnelle finden Sie die Telefonnummer der Werkstatt nicht.

Sie gehen online, suchen nach der Nummer, da fällt Ihnen siedend heiß ein, dass Ihre Freundin Geburtstag hat, und Sie rufen sie statt der Werkstatt an. Danach gehen Sie in die Küche und fragen sich, was Sie eigentlich dort wollten. Ach ja, das Käsebrot. Und jetzt sitzen Sie etwas erschöpft wieder auf dem Sofa, vor sich diesen Text, den Sie offenbar in einem früheren Leben, so kommt es Ihnen jedenfalls vor, mal angefangen haben. Falls Sie sich in dieser Beschreibung auch nur ansatzweise wiederfinden: Willkommen im Club der frustrierten Multitasker, die verzweifelt versuchen, das ständige Ausfransen der Aufmerksamkeit zu verhindern, und daran scheitern.

 

Die Hälfte der Zeit sind wir nicht da

Dass die Gedanken sich vom gegenwärtigen Moment lösen und in die Zukunft oder Vergangenheit abschweifen, ist normal. Wir geben uns gerne der Illusion hin, Herr oder Herrin unserer Gedanken zu sein, aber tatsächlich wandert unser Geist bis zu 50 Prozent unseres Wachlebens und führt uns überall hin, nur nicht dahin, wo wir aktuell sein wollen. Die Hälfte der Zeit sind wir nicht da. Was im Buddhismus schon lange als „Affengeist“ bekannt ist, nennt die moderne westliche Forschung mind wandering. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass der spontan wandernde Geist sich messbar negativ auf die Stabilität unseres geistigen Arbeitsspeichers auswirkt. Möglicherweise schwächt er auch unsere geistige Autonomie, die Fähigkeit, unsere inneren Handlungen zu kontrollieren.

Thomas Metzinger, Professor für theoretische Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, beschäftigt sich nicht nur als Forscher mit dem Phänomen des wandernden Geistes. Er versucht auch selbst, alltagspraktische Wege zu finden, die Dinge, die er sich vorgenommen hat, zu Ende zu bringen und den ständig auftauchenden inneren Attacken, die ihn wegreißen wollen, zu trotzen. Er steht morgens früh auf, meditiert und versucht dann, sich in den ersten drei Arbeitsstunden konzentriert und konsequent einer anspruchsvollen Aufgabe zu widmen. In dieser Zeit verordnet er sich strikte Onlineabstinenz. Als ich ihn treffe, hat er um 11 Uhr bereits eine komplizierte Doktorarbeit aus Australien gelesen, für die er ein Gutachten schreiben muss.

„Sobald man zum ersten Mal online ist, und sei es nur, um kurz in die Nachrichten zu schauen oder Mails abzufragen, zerfällt die Aufmerksamkeit und innere Stabilität.“ Danach sei es sehr schwer, wieder eine zielgerichtete Konzentration aufzubauen, weiß Metzinger aus eigener Erfahrung: „Bin ich mal online, ist mein Arbeitstag eigentlich gelaufen.“ Dieses erfrischend ehrliche Bekenntnis entlastet und verstört zugleich. Denn wie soll man wichtige Dinge zu Ende bringen, wenn sogar ausgewiesene Experten damit Schwierigkeiten haben? Offensichtlich brauchen wir eine geradezu heroische Haltung, den tausend Ablenkungen zu widerstehen, und müssen uns wie Odysseus am Mast festbinden, um uns nicht vom Gesang der virtuellen Sirenen verführen zu lassen, die uns ständig zurufen: „Lies mich! Leite mich weiter! Speicher mich ab! Druck mich aus! Bewerte mich! Buch mich! Vergleich mich! Like mich!“

 

Spätestens nach elf Minuten sehnen wir uns nach einer Unterbrechung

Der Stressreport Deutschland 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz kommt zu dem Ergebnis, dass rund 44 Prozent der Befragten häufig ihre Arbeit unterbrechen müssen. Bei einer älteren, aber immer noch gültigen Studie, bei der Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz gefilmt wurden, zeigte sich, dass sie durchschnittlich nach elf Minuten unterbrochen wurden. Das Telefon klingelte. Jemand klopfte an die Tür. Eine wichtige Mail mit dem Vermerk „Eilt“ poppte auf. Doch bei genauerer Analyse zeigte sich, dass die Hälfte der Unterbrechungen selbst erzeugte Unterbrechungen waren. „Wenn tatsächlich mal niemand an die Tür klopft und man in Ruhe arbeiten könnte, unterbricht man sich selbst und checkt völlig sinnlos den Kontostand oder schaut nach den neuesten Nachrichten“, beschreibt Thomas Metzinger dieses Phänomen.

Er erklärt sich diese Tendenz zum einen damit, dass das Gehirn extrem schnell lernt und sich an die Umwelt anpasst. Die Erfahrung, nach elf Minuten unterbrochen zu werden, führt zu einer inneren Vorhersage, die dafür sorgt, dass das Erwartete eintritt – wenn nicht durch eine äußere, dann eben durch eine innere Unterbrechung, die einen zur Maus oder zum Smartphone greifen oder in die Teeküche laufen lässt. Doch um den Ursachen der inneren Attacken auf die Spur zu kommen, müsse man noch etwas tiefer schauen und sich mit dem Aspekt der Gier beschäftigen. „Wir sind gierig nach kleinen Neuigkeiten, die uns sofort mit einer Dopaminausschüttung im Gehirn belohnen. Unsere Gier nach Unterhaltung und Abwechslung untergräbt unsere geistige Autonomie und lässt uns ständig Dingen, Informationen, Zielen und Erlebnissen hinterherlaufen, die uns von außen angeboten werden und die wir fast alle eigentlich nicht brauchen, um ein gutes Leben zu leben.“

In den neuen medialen Arbeitswelten bringt unbewusste Gier uns in einen Teufelskreislauf, der uns am Ende des Tages erschöpft und frustriert darüber klagen lässt, dass wir nichts geschafft haben. „Die neuen Medien bieten tolle Ablenkungsmöglichkeiten. Doch ständig machen wir die kränkende Erfahrung, dass wir uns nicht konzentrieren können und stattdessen abschweifen. Diese Einsicht müssen wir verdrängen, weil sie zu beschämend ist, also lenken wir uns noch mehr ab“, beschreibt Metzinger den Kreislauf. Wenn wir immer wieder erleben, dass wir unsere geistige Autonomie verlieren und das Gegenteil von dem tun, was wir eigentlich tun möchten, schwächt das unsere Selbstwirksamkeit. „Wir erleben uns als ohnmächtig unserem eigenen Geist gegenüber. Wenn wir uns dieser Erfahrung stellen, müssen wir uns eingestehen, dass es kein einheitliches, kein wirkliches Selbst gibt und wir unbewussten Mechanismen ausgeliefert sind. Und weil das niemand wahrhaben will, machen wir Witze über unser ständiges Abschweifen und retten uns in Selbstironie.“

 

Aufmerksamkeit funktioniert wie ein Muskel

Was die Sache noch komplizierter macht: Es sind nicht nur die unsinnigen und überflüssigen Ablenkungen, die es uns schwer machen dranzubleiben. Im Internet warten auch großartige Vorträge, spannende Artikel und tolle Musik. Einen Arbeitsplan zu verfolgen ist vergleichbar mit einer Diät. Wir haben uns vorgenommen, konsequent bei Obst, Reis und Gemüse zu bleiben, müssen aber den ganzen Tag an Regalen voller Köstlichkeiten vorbeigehen und die Finger davon lassen. Sich die Schwierigkeit dieser Aufgabe klarzumachen kann helfen, das eigene Scheitern mit Selbstmitgefühl zu kommentieren und kreative Wege zu finden, trotzdem zum Ziel zu kommen.

Zum Schluss noch eine gute und eine schlechte Nachricht: Aufmerksamkeit funktioniert wie ein Muskel. Wir können sie trainieren. Der nachweislich beste Weg ist Meditation. Denn Meditation erhöht, wie Metzinger sagt, die geistige Autonomie, indem wir uns bewusst werden, was gerade passiert, und unseren Ablenkungsmechanismen auf die Schliche kommen. Die schlechte Nachricht: Üben müssen wir täglich.

 

Quelle: Diese Veröffentlichung ist Teil einer Kooperation mit der Verlagsgruppe Beltz. Der Beitrag ist erschienen in Psychologie Heute Nr. 6/2017, Seiten 18 bis 22.

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