Vorgesetzte müssen nicht ständig erreichbar sein – aber sie wollen es
Die ständige Erreichbarkeit wird in unserer modernen Arbeitswelt zunehmend zum Problem, vor allem unter Führungskräften. Doch diese befinden sich im Zwiespalt: Viele Betroffene leiden unter dem fehlenden Abschalten, möchten aber zeitgleich ständig erreichbar sein. Wieso?
Kaum eine Entwicklung hat die Welt in den vergangenen Jahren so verändert wie die Digitalisierung. Doch jede Medaille hat zwei Seiten und demnach hat auch diese nicht nur Vorteile, sondern auch den einen oder anderen Nachteil mit sich gebracht. So angenehm das Leben mit Smartphones, Social Media und Co auch sein mag, so stressig ist es zugleich. Viele Menschen schalten wortwörtlich nicht mehr ab – weder ihr privates Handy noch das geschäftliche. Die Folge: Sie sind Tag und Nacht für ihren Arbeitgeber erreichbar, auch nach Feierabend, am Wochenende oder sogar im Urlaub. Gerade bei 18- bis 36-Jährigen ist dies enorm verbreitet; betroffen von der ständigen Erreichbarkeit sind vor allem Führungspersönlichkeiten.
„Kann“ oder ein „Muss“? Ständige Erreichbarkeit in Führungspositionen
Aus rechtlicher Sicht darf ein Arbeitgeber keine ständige Erreichbarkeit verlangen. Prinzipiell darf das (Geschäfts-) Handy also außerhalb der offiziellen Arbeitszeiten getrost ausgeschaltet werden. Doch wie immer im Leben, gibt es von jeder Regel auch Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen ist die Rufbereitschaft.
Jedoch ist es auch zulässig, in Arbeitsverträgen individuelle Regelungen zur Erreichbarkeit über das Geschäftshandy zu vereinbaren. In der Praxis wird diese Ausnahme vor allem bei Arbeitsverträgen für Führungspositionen genutzt. Durch das höhere Gehalt soll der Mehraufwand quasi abgegolten werden. Doch selbst wenn die ständige Erreichbarkeit nicht explizit im Arbeitsvertrag festgelegt wurde, gehört sie in vielen Unternehmen schlichtweg zum guten Ton. Wer in der Hierarchie aufsteigen möchte, ist stets erreichbar. Punkt.
Hallo „Burnout“: Die Kehrseite der ständigen Erreichbarkeit
Auf den ersten Blick ist die ständige Erreichbarkeit auch nicht weiter schlimm. Ein fünfminütiges Telefonat zerstört nicht direkt den ganzen Urlaub und das kurze Checken der E-Mails vor dem Einschlafen frisst nur wenige Sekunden Zeit. Auf den zweiten Blick hat die ständige Erreichbarkeit aber eine nicht zu unterschätzende Kehrseite. Sie verhindert das Abschalten auf einer geistigen Ebene und damit notwendige Entspannungszeiträume. Die Betroffenen sind stets ganz oder teilweise mit dem Kopf bei der Arbeit und bewegen sich dadurch auf einem ständig erhöhten Stresslevel. So fühlen sich Führungspersonen durch die ständige Erreichbarkeit gehetzt und beträchtlichen Mehrbelastungen ausgesetzt. Schlimmstenfalls führt das bis hin zu Erschöpfungszuständen, Depressionen oder einem Burnout-Syndrom.
Besonders häufig betroffen sind davon jene Führungskräfte in einer Zwischenposition zwischen Beschäftigten und höheren Vorgesetzten. Sie tragen auf der einen Seite bereits eine Menge Verantwortung, haben auf der anderen Seite aber noch nicht genügend Einfluss, um Ansprüche wie eine Einschränkung der Erreichbarkeit durchzusetzen. Sie wollen also schlichtweg nicht abschalten – aus Angst vor dem Kontrollverlust oder negativen Auswirkungen auf ihren weiteren hierarchischen Aufstieg. Sie befürchten, ein falsches Signal zu senden, wenn sie hin und wieder absent sind, und dadurch nicht weiter befördert zu werden. Wie berechtigt solche Befürchtungen sind, ist stets vom Einzelfall abhängig. Interessant ist zudem, dass viele Führungskräfte schlichtweg erreichbar sein wollen. Sie möchten überhaupt nicht „verzichtbar“ sein. Es gibt also viele Gründe, weshalb Führungskräfte erreichbar sein möchten oder müssen.
Tipps für Führungskräfte: Wege aus der Erreichbarkeits-Falle
Neben den gesundheitlichen Aspekten gibt es noch zahlreiche weitere Argumente gegen die ständige Erreichbarkeit. Negative Effekte auf das Familienleben der Betroffenen beispielsweise oder im unternehmerischen Kontext eine schlechte Vorbildfunktion. Ist der Chef ständig zu erreichen, gehen nämlich viele Mitarbeiter davon aus, dass selbiges auch von ihnen verlangt wird. Folgen wie mehr Krankheitsfälle oder eine schlechtere Arbeitsatmosphäre aufgrund des hohen Stresspegels in der Belegschaft sind dadurch alles andere als unrealistische Szenarien. Was also können Sie tun, um die Erreichbarkeit einzuschränken – egal, ob diese ausdrücklich oder nur implizit verlangt wird?
– Reflektieren Sie erst einmal Ihren eigenen Umgang mit der Erreichbarkeit. Wann und wie sind Sie erreichbar?
– Entwickeln Sie nun Zielvorgaben gemäß Ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Wann und wie möchten Sie zukünftig erreichbar sein – und vor allem: wann nicht?
– Anschließend sollten Sie ebenfalls hinterfragen, in welchem Ausmaß Sie die stetige Erreichbarkeit von Ihren Mitarbeitern verlangen. Was erwarten Sie also von sich selbst und was von Ihrem Team?
– Analysieren Sie die Gründe für Ihre ständige Erreichbarkeit. Wird diese verlangt? Oder setzen Sie sich selbst unter Druck? Haben Sie Angst vor einem Kontrollverlust? Oder genießen Sie das Gefühl der Unverzichtbarkeit?
– Treffen Sie klare Absprachen mit Ihrem Team. Welchen Umgang mit der Erreichbarkeit setzen Sie voraus? Was erwarten Sie? Was sind Sie im Gegenzug zu leisten bereit? Wer kann und soll Sie außerhalb der Arbeitszeiten wie kontaktieren und bei welchen Problemstellungen? Welche alternativen Lösungen beziehungsweise Ansprechpartner gibt es?
– Machen Sie sich verzichtbar, indem Sie Mitarbeiter zur Eigenständigkeit ermutigen und dadurch gezielt fördern. Das verbessert das Betriebsklima und entlastet Sie Ihrerseits.
– Seien Sie ein Vorbild, indem auch Sie keine ständige Erreichbarkeit von Ihrer Belegschaft erwarten und diese bei jeder Kleinigkeit außerhalb der Arbeitszeiten kontaktieren.
– Treffen Sie zudem klare Absprachen mit Ihren Vorgesetzten. Was wird von Ihnen erwartet? Welche Regeln und Kompromisse gibt es? Können Sie für gewisse Fachbereiche oder Zeiträume eine Vertretung organisieren? Welche Verpflichtungen ergeben sich aus Ihrem Arbeitsvertrag und welche aus der im Unternehmen gängigen Praxis? Halten Sie sich unbedingt strikt an diese Absprachen!
– Planen Sie vorausschauend und stellen Sie dadurch sicher, dass während Ihrer Abwesenheit so wenig Probleme, Unklarheiten, Fragen und Co auftauchen wie möglich, welche eine Kontaktaufnahme zu Ihnen notwendig machen.
– Verteilen Sie Verantwortlichkeiten, benennen Sie zuständige Vertretungen und kommunizieren Sie klar Ihre „Gesprächszeiten“ beziehungsweise Kanäle – beispielsweise, dass Sie im Urlaub zwar erreichbar sind, jedoch nur via E-Mail und nicht telefonisch.
Prinzipiell gilt also: Je klarer Ihre Kommunikation und je besser Ihre Vorbereitung, umso weniger müssen Sie außerhalb der Arbeitszeiten erreichbar sein. Dennoch sind die Erwartungen an Führungskräfte je nach Unternehmen verschieden und sollte die Belastung zu groß werden, ohne dass Sie einen Kompromiss vereinbaren können, bleibt Ihnen auf lange Sicht leider nur eine Wahl: Entweder Sie riskieren Ihre Gesundheit durch die ständige Erreichbarkeit oder Ihre Karriere, indem Sie eben doch hin und wieder einmal abschalten!
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